Lexikon

Handwörterbuch der Textilkunde aller Zeiten und Völker für Studierende, Fabrikanten, Kaufleute, Sammler und Zeichner der Gewebe, Stickereien, Spitzen, Teppiche und dergl., sowie für Schule und Haus, bearbeitet von Max Heiden, Stuttgart 1904

Gesamtindex
Eintrag: Spinnen
Spinnen, Fasern zu einem Faden zusammendrehen; davon übertragen auf das Abhaspeln der Seidenkokons. Das Sp. mittels der Handspindel ist uralt; es wurde zunächst durch das im Jahre 1530 von Johann Jürgen in Wolfenbüttel erfundene Spinnrad auf eine, wenn auch sehr unvollkommene, höhere Stufe gebracht. Nur langsam fand diese noch in der Jetztzeit benutzte mechanische Vorrichtung Verbreitung, denn es gibt gewisse Arten von Batist und Spitzengarnen, zu deren Herstellung die Spinnmaschine nicht hinreicht. Man hat daher auch die Verbesserung der Spinnräder nicht vernachlässigt; insbesondere hat der Franzose Lebec in Nantes 1832 das Spinnrad so herzurichten verstanden, dass dasselbe zur Erzeugung der feinsten Garne zu verwenden ist. Ein gewaltiger Umschwung vollzog sich durch die Einführung der Spinnmaschinen für Wasser- und Dampfbetrieb, deren Entwicklung zu Anfang des 18. Jahrhs. begann. Indem man auf die Verarbeitung grosser Mengen eines Faserstoffes ausging, wies man die Vorarbeiten der mechan. und ehem. Reinigung besonderen Maschinen zu, bewirkte die erste Umordnung der Fasern zu einem endlosen Flor auf der Krempel und gelangte von diesem bandförmigen Fasergebilde zu der fadenförmigen Vorstufe des Feingespinstes (Vorgarn) durch schrittweises Strecken (wie es in der Baumwoll-, Kammgarn-, Chappe-, Seiden-, Jute- und Wergspinnerei üblich ist) oder durch Längsteilung (wie in der Streichgarnspinnerei), worauf die auf eine Vielzahl von Fäden berechneten Feinspinnmaschinen durch die Arbeitsvorgänge des Streckens und Drehens die erforderliche Feinheit und Festigkeit begründeten, unter geeigneter Aufstapelung des fertigen Fadens auf Spindeln bezw. Spulen Die Maschinenspinnerei verfügt zur Zeit über zwei Hauptarten von Feinspinnmaschinen: den Selfaktor und die Drosselmaschine. Beim Seifaktor, der aus der Cromptonschen Mulefeinspinnmaschine hervorging, wechseln (wie bei der Handspindel) das eigentliche Spinnen und (Strecken und Drehen) und das Aufwinden miteinander ab, indem die zur Aufnahme des Gespinstes bestimmten Spindeln auf einen Wagen so angeordnet sind, dass sie bei dessen Entfernung von dem Streckwerk (Wagenausfahrt) die Zusammendrehung (Verdichtung, Festigung) des verdünnten Vorgespinstes und bei dessen Annäherung an das Streckwerk (Wageneinfahrt) die geordnete Aufwindung des Feingespinstes bewirken. Erst nachdem es gelang, alle erforderlichen Bewegungen der zusammenwirkenden Organe automatisch von der Maschine selbst bewirken zu lassen, rechtfertigte sich die üblich gewordene Bezeichnung „Selfaktor", die aus dem englischen selfacting-mule entstand. Den Abschluss des hier angedeuteten Gedankens erreichte 1872 O.Wolf in Vöslau durch Gestaltung einer Vorrichtung, die den Stillstand der Maschine bewirkt, sobald die Spindeln eine vorgeschriebene Fadenlänge aufgenommen, haben.
Bei der Drosselmaschine (Drosselstuhl), deren erste Gestaltung R. Arkwight 1775 zuzuschreiben ist, erfolgt wie bei dem Handspinnrad das Spinnen und Aufwinden gleichzeitig, womit neben Raumersparnis und grösserer Lieferung sogleich die Möglichkeit des vollständig automatischen Betriebes mittels elementarer Betriebskraft (z. B. Wasser, daher auch Watermaschine) gegeben ist; die Aufwindung der fertigen Fäden erfolgt hier nicht unmittelbar auf Spindeln, sondern mittels rotierender Flügel auf Spulen, die durch die auflaufenden Fäden nachgezogen, durch Beibung auf ihren Stützflächen in gewissem Masse zurückgehalten werden, also unter Beanspruchung der Festigkeit des Fadengebildes; deshalb ist die Herstellung der feinsten und schwächsten Garne auf dieser Maschine ausgeschlossen, die vielmehr dem Seifaktor verblieben ist. Am meisten ist in dieser Beziehung eine als Ringmaschine bekannte Umgestaltung der Drosselmaschine dem Seifaktor nahe gerückt worden, bei welcher nicht die Spule, sondern ein beliebig leicht zu machender Fadenleiter (Läufer) auf einer ringförmigen Bahn durch den auflaufenden Faden nachzuziehen ist.

Die Feinheit der Gespinste wird allgemein durch eine Vergleichung zwischen Länge und Gewicht eines gewissen Fadenstückes festgestellt, indem man z. B. (bei der internationalen Numerierung) angibt wieviel Meter des Fadens auf 1g gehen; hat also ein gewisses Fadenstück L Meter Länge und G Gewicht, so ist die metrische Feinheitsnummer N = L/G. Auf die Prüfung der Feinheit folgt in allen Fällen, wo die Verwendung der Garne anderwärts geschieht, noch die geeignete Verpackung derselben, sei es in Form der Cops, wie sie der Seifaktor liefert, oder in Form geweifter Strähne, die zu Docken und Paketen von abgerundetem Gewicht zusammengelegt und durch scharfes Pressen auf den kleinstmögiichen Baum gebracht werden (s. Garne und Garnsorten).

Je nach dem Spinnmaterial unterscheidet man als wichtigste Arten der Spinnerei die Flachs-, Hanf-, Jute-, Seiden-, Baumwoll- und Wollspinnerei Die Flachsspinnerei (s. a. Flachs) ist eines der ältesten Gewerbe: schon die alten Aegypter haben uns in den Gräbern die einfachsten Spinngeräte hinterlassen. 1865 wurden in Pfahlbauten der Schweiz 40 Spindeln neben Bruchstücken leinener Gewebe aufgefunden, deren Alter auf wenigstens 3000 Jahre geschätzt werden muss. 1787 wurden in Darlington in England die ersten Spinnversuche auf Maschinen angestellt. Der eigentliche Begründer der mechanischen Flachsspinnerei ist Philippe de Girard, welcher 1810 in Frankreich das erste Patent auf Flachsspinnereimaschinen nahm. 1829 wurde die erste mechanische F. in Leeds durch Dampfkraft in Betrieb gesetzt. Für 1902 ist die Anzahl der Spindeln in Tausenden: für Grossbritannien mit 1600, Frankreich 550, Oesterreich-Ungarn 350, Deutschland 360, Belgien 250, Russland 240, Italien 80, Schweiz 12, Holland 10, Schweden 10, ganz Europa 3600, Nordamerika 120, Ostindien 160, die ganze Erde 4000 anzunehmen. Deutschland liefert vorzugsweise die Flachsgarnnummern 8 bis 60 und die Werggarnnummern bis 30. Zur Fasergewinnung im grossen dient hauptsächlich die Bastfaser der Spezies Linum usitatissimum L. oder des gemeinen Leins (s. Lein, Leinenindustrie und Flachs). Die in sogen. Kapellen getrockneten Leinpflanzen werden durch Riffeln oder Reffeln von den Samenkörnern befreit: die Samenkapseln und Blätter streift man von den Stengeln ab. Es folgt das Rösten, Rotten oder Weichen, um den Bast und die Fasern zu trennen und zu lösen. Die Flachsdarren dienen zum Trocknen des gerösteten Flachses. Das Botten geschieht mittels des Botthammers oder Bleuels, mit welchem der Flachs gleichsam gedroschen wird; in einigen Gegenden wendet man dafür das Boken an als Hilfsarbeit des Brechens. Der einfachste zum Brechen verwendete, von Hand bewegte Apparat ist die Handbreche oder Brake; man nimmt hierzu auch Brechmaschinen in Gebrauch, bei welchen der Flachs durch ein paar geriffelte Walzen geht. Um noch vorhandene Holzteilchen zu entfernen, bedient man sich der Schwingmaschinen. Durch den nun folgenden Hechelprozess geschieht die Zerteilung und Zerlegung des Flachses unter gleichzeitiger Absonderung der kürzeren Fasern. Zur Bildung eines gleichmässigen Bandes des gehechelten Flachses und zu dessen allmählicher Ueberführung durch Yorgespinst zum Feingarn, welches in der Arbeit des Streckens und Anlegens besteht, dient die Anlegemaschine. Von da aus kommt das Band zum Strecken und Duplieren auf die Flachsstreck- und Dupliermaschine oder den Durchzug Das letzte Duplieren und Strecken, sowie die Bildung des Vorgarns erfolgt auf der Spindelbank, Vorspinnmaschine oder Flyer. Das Feinspinnen erfolgt meist auf der sogen. Watermaschine: man verspinnt das Vorgarn unter Anwendung von heissem Wasser (Nassspinnerei). Die Trockenspinnmaschine enthält in den Einzieh- und Streckwalzen noch besondere Vorrichtungen zur Bildung des Fadens. In der Nassspinnerei für Flachs und Werg hat in neuester Zeit die Ringspindel der Baumwollspinnerei Eingang gefunden. Die Nach- und Vollendungsarbeiten sind die gleichen wie bei der Wergspinnerei.

Die Werg- oder Heedespinnerei umfasst die Verarbeitung der beim Hecheln des Flachses ausgekämmten kürzeren, verworrenen und vielfach verschlungen durcheinander liegenden Fasern; das erzeugte Garn wird Werg oder Heedegarn genannt. Zur Reinigung der Heeden dienen Oeffner oder Schlag- oder Wickelmaschinen; Karden oder Krempeln gleichen den Baumwollkrempeln. Die Wergstrecke und Vorspinnmaschine sind von entsprechender Konstruktion als diejenigen zur Flachsbearbeitung, ebenso die Wergfeinspinnmaschinen. Das Haspeln der Flachs- und Werggarne findet auf der Garnhaspel oder Weife statt. Zur Vollendungsarbeit gehört das Trocknen der nass gesponnenen und gehaspelten Garne, wozu sie sofort in Trockenkammern kommen. Um Garn direkt in die zum Weben erforderliche Form zu bringen, wird dasselbe oft schon in den Spinnereien mittels sogen. Schussspulmaschinen gespult. (Vgl. Pfuhl, Weitere Fortschritte in der Flachsgewinnung, Riga 1895; Kuhnert, Der Flachs, seine Kultur und Verarbeitung, Berlin 1897.)

Die Hanfspinnerei stimmt im wesentlichen mit der Flachsspinnerei überein, nur dass die Maschinen, der stärkeren Hanffaser entsprechend, kräftiger gebaut sind.

Die Jutespinnerei findet nach zwei Methoden statt. Das eine, nur in England gebräuchliche Verfahren zerschneidet oder zerreisst die Fasern und sie werden darauf wie Flachs verarbeitet: das so erzeugte Garn heisst gebedieltes oder Jute-Hechelgarn (engl, jute-line-yarn). Bei der zweiten, in Deutschland und Oesterreich ausschliesslich üblichen Methode werden die zerrissenen Fasern auf Krempeln verarbeitet und ähnlich wie Flachs gesponnen dies liefert das kardierte Garn oder Jute-Werggarn (engl.: jute-tow-yarn) genannte Gespinst.

Unter Seidenspinnerei ist nur die Verarbeitung der Florettseide (s. Florettindustrie) zu verstehen, da bei der Behandlung der gehaspelten Seide (s. d.) ein wirklicher Spinnprozess nicht stattfindet. Denn der Rohseidenfaden besteht aus einer Anzahl nebeneinander liegender Fäden, während die unter dem Namen Florett- oder Galetteseide zusammengefassten Materialien als Gespinste im eigentlichen Sinne zu bezeichnen sind, da jeder Faden aus vielen einzelnen kurzen Fasern durch Zusammendrehen derselben gebildet wird. In den Florettspinnereien wird zunächst der Klebstoff aufgelöst, worauf man die durch Auswaschen und Stampfen bearbeitete Masse trocknet und die Fasern sortiert. Die nachfolgenden Operationen sind, je nachdem dasselbe eine feinfaserige, mehr oder weniger dichte Masse oder ziemlich lange, nur lose zusammenhängende Fäden darstellt, entweder der Kammgarn- und der Wergspinnerei oder der Baumwollspinnerei entnommen, indem als Vorarbeit des Spinnens in dem einen Fall ein Kämmen oder Hecheln, im andern ein Krempeln stattfindet. Obwohl die schönsten Florettgarne an Feinheit, Glätte und Glanz niemals den besseren Sorten der gehaspelten und filierten Seide gleichkommen, finden dieselben ihrer Wohlfeilheit wegen ausgedehnte Verwendung (s. Seidengarne). Das Spinnen der Florettseide geschieht teils auf Spinnrädern, teils auf Maschinen. Im erstem Falle bedient man sich des früher auch für die Wollspinnerei gebräuchlichen Handrades, wenn die Fasern kurz sind, während die langen Fasern auf dem Trittrade versponnen werden. Ebenso sind bei der Maschinenspinnerei für kurzes und für langes Material verschiedene Methoden in Anwendung. Das erstere wird ganz wie Baumwolle behandelt, indem man die von der Krempelmaschine gelieferten Bänder auf der Streckmaschine zusammenlegt (dupliert) und auszieht, dann auf eine Vorspinnmaschine bringt und das erhaltene Vorgespinst auf einer Mulemaschine dem Feinspinnprozess unterwirft. Dagegen sind für lange Florettseide die in der Kammgarn- und Flachsspinnerei üblichen Maschinensysteme im Gebrauch. Die beim Kämmen der Florettseide sich ergebenden Seidenabfälle (Bourrette, Stumba) bilden das Material einer weiteren Industrie, der Bourrettespinnerei (s. d.), die im wesentlichen nach dem Verfahren der Kammgarnspinnerei arbeitet. Die Abgänge werden nicht versponnen, sondern als Watte, die geringsten als Polster- oder Packmaterial oder als schlechte Wärmeleiter zur Umhüllung von Dampfleitungen u. s. w. verwendet. Aehnlich der Kunstwolle (s. d.) wird auch die durch Zerfasern seidener Lumpen gewonnene Seide (Seidenshoddy) zu geringwertigen Stoffen verwendet.

Die Wollspinnerei, die Vorbereitung der sogen. Streichwolle und das Verspinnen derselben war bis gegen Ende des 18. Jahrhdts. reine Handarbeit. In England hat die Entwickelung der Streichgarnspinnerei ungefähr gleichen Gang mit der Baumwollspinnerei (s. d.) genommen, bis man allmählich die in der letzteren Industrie benutzten Maschinen passend umänderte, um sie der Natur des animalischen Faserstoffes auf das vorteilhafteste anzupassen. Bezüglich der Kammwollspinnerei ging die Einführung von Maschinen an Stelle der Handarbeit wegen der sich in den Weg stellenden Schwierigkeiten nur langsam vor sich und es wurde noch bis in das Jahr 1850 viel mit der Hand gesponnen. Auch zur Herstellung der Flachsspinnmaschinen gaben die Baumwollspinnmaschinen die Grundlage ab, auf welcher nach den gewonnenen Erfahrungen allmählich Zweckentsprechenderes geschaffen wurde. Ebenso üben auf das uralte Geschäft des Seilers die im Gebiete der Spinnerei errungenen Vorteile der Maschinenarbeit ihren Einfluss aus und bemühte man sich mit Erfolg, das Sjoinnen der Taugarne auf Maschinen zu bewerkstelligen. (S. a. Baumwollspinnerei und Kammgarnspinnerei in bes. Artikeln.)

Literatur:

Brüggemann. Die Spinnerei, ihre Rohstoffe, Entwickelung und heutige Bedeutung, Leipzig 1899;
ders., Theorie und Praxis der rationellen Sp., Stuttgart 1897/8;
Hennig, Die Streichgarn- und Kunstwollsp. in ihrer gegenwärtigen Gestalt, Berlin 1894;
Hentschel, Prakt. Lehrbuch der Kammgarnsp., Stuttgart 1900;
Johannsen, Studien über den Wickelkörper des Seifaktors, Leipzig 1895;
Müller, Handbuch der Sp., Leipzig 1892;
Beiser, Lehrbuch der Spinnerei, Weberei und Appretur, ebd. 1901; Zipser, Technologie der Sp., Wien 1902.