Lexikon

Handwörterbuch der Textilkunde aller Zeiten und Völker für Studierende, Fabrikanten, Kaufleute, Sammler und Zeichner der Gewebe, Stickereien, Spitzen, Teppiche und dergl., sowie für Schule und Haus, bearbeitet von Max Heiden, Stuttgart 1904

Gesamtindex
Eintrag: Wolle
Wolle (franz.: laine; engl.: wool; ital.: lana), die eigenartige Haardecke des Schafes, ist schon vom Altertum her (s. Geschichtliches) ein wichtiger Artikel als Bekleidungsstoff gewesen und mit der Zeit ein Weltartikel von grösster Bedeutung geworden. Anfangs verarbeitete man die W., wie sie die gewöhnlichen Schafe gaben, doch bestanden schon Sortenunterschiede je nach den verschiedenen Ländern, wovon namentlich die englische W. als die beste und längste galt, und es wurden grosse Mengen davon für die niederländischen Tuchmachereien ausgeführt, bis 1660 die Ausfuhr streng verboten wurde, eine Massregel, die sich bis 1825
erhalten hat. Vor etwa anderthalb hundert Jahren begann eine neue Periode in der Wolleproduktion durch Einführung der edlen spanischen Schafe, zunächst nach dem Kurfürstentum Sachsen, weshalb die hier gezüchtete feine W. den Namen Elektoralwolle erhielt. Die edlen spanischen oder eigentlich maurischen, aus Afrika stammenden Schafe bilden zwei Rassen, die eigentlichen Merinos, die Träger der Elektoralwolle, und die Negrettis. Die ersten sind Stallvieh und haben die feinste W. , indessen die andere mit dichterem, kräftigem und nicht ganz hochfeinem Vliess aus jenen entstanden sind durch ein Wanderleben indem sie im Sommer in den Gebirgen von Altkastilien und Aragonien, im Winter in den Ebenen von Estremadura und der Mancha geweidet wurden. Die W. der Schafe aus der Provinz Burgos heisst Burgalesas und ist meist rosa, selten weiss; die Cuencaswolle ist geringerer Qualität. Die W. der Negrittaschafe nennt man in Spanien Infantadowolle und die aus Leon Leonesas. Nach dem Vorgänge Sachsens haben dann auch die übrigen Länder, Oesterreich, Ungarn, England, Frankreich, spanische Schafe aus Spanien oder Deutschland eingeführt und ihre Herden durch spanisches Blut veredelt, teils durch Merinos, teils durch Negrettis. Alle wirklichen Schäfereien halten jetzt mehr oder weniger veredeltes Vieh und man sucht durch Kreuzungen möglichst drei Ziele zugleich zu erreichen: Wollfeinheit, Wollmenge und Körperschwere. Da die Veredelung immer vom männlichen Tiere ausgeht, so sind edle Zuchtwidder sehr teuere Gegenstände. In England wird hauptsächlich auf grossen Schafen die lange, kräftige und glänzende Wolle gezüchtet, wie sie zu Kammgarn erforderlich ist. Die Verpflanzung der spanischen Edelschafe ist nirgend besser gelungen als in Sachsen und einigen anderen Gegenden Deutschlands, jedoch nicht in allen. Hier ist die Merinowolle nicht nur ebenso gut, sondern meist besser, weicher und zarter als in ihrem Vaterlande, so dass man also in Deutschland tatsächlich die feinste W. antrifft und die Engländer, welche alle hochfeine W. kaufen müssen und sie früher von Spanien nahmen, jetzt nur das Wenigste dort, sondern die Hauptmenge in Deutschland kaufen.

Geschichtliches. Die Verarbeitung der Wolle zu Kleidungsstücken ist wohl in allen Ländern der gemässigten Zone der Verbreitung des Schafes auf dem Fusse gefolgt; überall in Vorder- und Mittelasien, in Aegypten, in Mittel- und Südeuropa finden wir Wollenweberei als uraltes Hausgewerbe. Ebenso alt war gewiss auch das heute noch bei den Kalmücken und Kirgisen gebräuchliche Verfahren, die Wolle mittels der Einwirkung heissen Wassers oder eines Leimes zu filzen. Die frühesten Nachrichten über die Wolle als einen der Hauptartikel der Industrie und des Handels weisen auf Babylon und Niniveh, woselbst die wichtigen Ausstattungen der Wohnräume daraus bestanden. Dass auch bei den Aegyptern die Wollenmanufaktur und die Teppichwirkerei in grossem Umfange seit den ältesten Zeiten betrieben ward, davon geben uns die Nachrichten aus der Bibel Kenntnis. Babylonische Mäntel sollen in Syrien schon im 2. Jahrhundert getragen worden sein. Von da hat sich die Wollenweberei als ausgebildeter Industriezweig wahrscheinlich nach Phönizien und Kleinasien verbreitet.
Den Grriechen war die Wolle in der höchsten Kulturperiode der beliebteste Kleidungsstoff; der volle Faltenwurf derselben trat an die Stelle der gekniffenen und welligen Leinenzeuge. Besonderen Ruf in der Herstellung von Wollenstoffen erlangten die Städte Milet, Samos, Korinth,Karthago, Tarent, auch die spanischen Städte Cartagena, Tarragona u. s. w. Ueberhaupt muss in den letzten Jahrhunderten des Altertums die Schafzucht in Spanien auf einer sehr hohen Stufe gestanden haben, denn der römische Geograph Strabo berichtet, dass ein ausgezeichneter Zuchtwidder mit 1 Talent d. s. etwa 4700 Mark, bezahlt worden sei.
Besonders gesucht war die naturschwarze Wolle Spaniens. Nach den Berichten von "Dr. K. Weinhold, Nordisches Leben, Berlin 1856", war bei den Sachsen und Skandinaviern das Wadmal, ein grobes hausgemachtes Wollenzeug, das gewöhnlichste Tauschmittel und diente statt des Geldes. Man unterschied verschiedene Sorten, gewöhnliche und feinere, darunter auch gestreifte Stoffe. Sehr stark und dick war der Loden, dem ähnlich, wovon Plinius sagt, dass es dem Eisen und selbst dem Feuer Widerstand geleistet hätte. Noch derber war das Flockenzeug oder der Filz. Die Strickwolle wurde in den baltischen und Nordseeländern seit frühesten Zeiten zum Stricken der meistens blauen grossen Strümpfe oder Hosen, der gemeinsamen Tracht für Frauen und Männer, benützt. In Friesland musste zu den Zeiten Karls des Grossen die Wollenweberei zu grösserer Vollendung gediehen sein, da friesische Mäntel von ihm als Geschenke in das Ausland gesandt wurden. Seit dem 10. Jahrh. wurden die deutschen Wollenmanufakturen berühmt und lieferten die Modestoffe. Von Deutschland aus zog sich die feinere Wollenweberei mehr nach Flandern und wurde durch den Schutz, den ihr Balduin lll. (gest. 1162) zuteil werden liess, besonders gepflegt. Er berief deutsche Weber und Spinner in seine Staaten zur Bereitung der feinsten Tuche und vorzüglich der fast ebenso hoch wie die Purpurseide geschätzten Scharlachtücher. Von Flandern und Belgien verpflanzte sich dann die feine Tuchfabrikation zunächst nach Florenz, dann auch nach den übrigen Städten Italiens, Mailand, Genua und Neapel. In Florenz blühte die Wollenweberei bereits im Anfange des 14. Jahrh. Nach Giov. Villani waren 200 Gewölbe für Wollenverkauf schon damals in Florenz, wurden 70-80000 Stücke Tuch des Jahres gefertigt, während zwanzig Appreturanstalten jährlich für 30000 Goldgulden ausländisches Tuch verfeinerten. Während der bürgerlichen und darauffolgenden religiösen Unruhen in Flandern und Brabant wanderten viele der geschicktesten Wollenweber nach fremden Staaten, die meisten nach England, ein Teil nach Deutsch-land. Ihnen verdankt England den Flor seiner Wollenindustrie. In der Mitte des 16. Jahrb., zur Zeit Eduard III, flüchteten über 100 000 Wollenweber aus Flandern, meistens nach England. Frankreichs Tuchmanufakturen brachte vorzüglich Colbert in Aufnahme. In der Schweiz bestanden gleichfalls sehr alte Fabriken, die besonders zu Zürich blühten. Die altberühmten deutschen Wollen-manufakturen - so schreibt auch Gottfried Semper im S.41 seines Werkes "Der Stil" - wetteifern mit mehr oder weniger Vorteil mit den englischen und französischen. Gewisse Fabrikate, z. B. das für Stickereien, Posamentierarbeiten und Strickgewebe so notwendig lange Kammgarn, wird nirgends so schön bereitet und gefärbt wie in Norddeutschland. Die langhaarigen angoraartigen Schafe der Nordseeküste und der Haide liefern dazu den fast einzig geeigneten Rohstoff.