Lexikon

Handwörterbuch der Textilkunde aller Zeiten und Völker für Studierende, Fabrikanten, Kaufleute, Sammler und Zeichner der Gewebe, Stickereien, Spitzen, Teppiche und dergl., sowie für Schule und Haus, bearbeitet von Max Heiden, Stuttgart 1904

Gesamtindex
Eintrag: Aegypten
Aegypten erzeugt scbon vor dem vierten vorchristlichen Jahrtausend Webereien (vgl. Georg Steindorff, Das Kunstgewerbe im alten Aeg., Lpz.1898). In den Gräbern haben sich steinerne Spinnwirtel (s. d.) und kupferne Nadeln zum Zusammennähen der Kleider, sowie Reste von Stoffen gefunden, welche aus Leinwand hergestellt sind. Am meisten Verwendung fanden dieselben in Gestalt von schmalen und breiten Binden zur Umwickelung der Mumien: sog. Mumienleinwand, deren älteste Proben nach den Untersuchungen von Aug. Braulik (Altägyptische Gewebe, Stuttg. 1900) mindestens 4600 Jahre, die jüngsten 1500 Jahre alt geschätzt werden. Die allermeisten dieser Gewebe bestehen aus Flachsgarnen und zwar aus dem mittelfeinen Handgespinst der Pflanze linum usitatissimum, welche in Unter- und Oberägypten mit Sorgfalt angebaut wurde. Den feinsten und teuersten derartigen Stoff, der an Wert dem Purpur gleichkam (s.Byssus), stellte man aus den zartesten Fäden einer Leinpflanze her, die nur im Delta Aegyptens wuchs: aus ihm wurden Kleider von solcher Feinheit gewebt, dass sie sich durch einen Siegelring ziehen liessen. Dass die Wolle in frühester Zeit gar nicht und später nur seltener Verwendung fand, erhellt schon daraus, dass Braulik bei 350 untersuchten Gewebebruchstücken nur ein einziges aus Wolle fand. Auch aus Gründen der Temperatur und der Sauberkeit wird man leinene Kleider den wollenen vorgezogen haben. Ferner darf nicht unbeachtet bleiben, dass der Widder den alten Aegyptern ein geheiligtes Tier gewesen ist, so dass also in früher Zeit, als die Priesterkaste noch den bedeutendsten Einfluss auf Sitten und Gebräuche des ägyptischen Lebens ausübte, das Verbot der Wolle als Bekleidung des Körpers wohl auch auf religiösen Anschauungen beruht. Indische Baumwolle lernten die Aegypter nach J. Engelmann (Geschichte des Handels- und Weltverkehrs, Leipz. u. Berl. 1881) zuerst etwa um 2000 v. Chr. durch die Völker des südlichen Arabiens und die Phönizier kennen; dagegen scheint ihnen die Seide erst in der Zeit nach Chr. bekannt geworden zu sein: gewiss durch den Verkehr mit den Völkern des fernen Ostens. (Vgl. Seidenstoffe aus den koptischen Funden.)

Ueber das Spinnen und Weben der alten Aeg. geben uns bildliche Darstellungen Aufschluss aus denen hervorgeht, dass diese Arbeiten nicht viel anders aber umständlicher ausgeführt wurden, als es heute zu geschehen pflegt.
Die Webestühle, mit wagerecht oder senkrecht aufgespannter sehr langer Kette, waren einfacher Art, Frauen und Männer webten an ihnen in hockender Stellung. (Vgl. Abb. 12.) Das Mühsame dieser Handfertigkeit wird uns in einem Papyrus geschildert, der Ermahnungen und Vorstellungen eines Abenteurers an seinen Sohn enthält, welcher eine Zeitlang am Hofe des Königs Amenemhat I. lebte (12. Dynastie: nach Justi, Geschichte der orientalischen Völker im Altertum, Berl.), um ihm jedes andere Greschäft als das eines Schreibers zu verleiden.
In dieser Schrift heisst es: „Der Weber im Innern der Häuser ist viel unglücklicher als eine Frau. Seine Kniee sind bis zur Höhe des Herzens heraufgezogen; er geniesst keine frische Luft. Versäumt er einen Tag, die ihm vorgeschriebene Qualität Zeug zu machen, so bindet man ihn krumm, wie den Lotos der Sümpfe. Nur wenn er den Türhütern Brot gibt, gelingt es ihm, das Tageslicht zu sehen. Wenn auch hier die Tätigkeit eines ägyptischen Webers in etwas grellen Farben geschildert sein mag, so erscheint die Notiz bezüglich des feuchten Arbeitsraumes insofern nicht unwichtig, als ein solcher die Dichte der Fadenfügung des Leinengewebes bekanntlich günstig beeinflusst; zum Vergleich mit dem zarten altägyptischen Byssusleinen erinnere ich daran, dass auch von den feinsten Valenciennesspitzen (s. d.) des 18. Jahrh. berichtet wird, sie seien im feuchten Kellerraum geklöppelt.
Ausser den glatten Leinenstoffen, die in einfachen und gemusterten Farbenstreifen abschliessen führt Braulik aus der Stoffsammlung des k. k. Oesterreichischen Museums in Wien noch Fransengewebe (s. d.) an, ferner macht uns derselbe Forscher bekannt mit Produkten der altägyptischen Kunstweberei: das sind Bändchen, welche als Grewandborten aufgenäht waren; ihre Musterung ist geometrisch, ein anderes Beispiel erinnert darin an den antiken Zinnigenabschluss (s. d.). Im Grundstoffe gemusterte Kleider wurden von den alten Aegyptern nicht getragen wenn wir solche auf Wandmalereien abgebildet finden, so handelt es sich um Darstellungen fremder Völkerschaften (siehe Abb. 13) ebenso bevorzugten die Eingeborenen weisse Gewänder, bei deren Anlegung sie den Anschauungen der Griechen huldigten, in die Schlichtheit des ungemusterten Stoffes dui'ch reiche Fältelung Abwechselung hineinzubringen, um die Umrisslinien des menschlichen Körpers vorteilhaft in Erscheinung treten zu lassen.
Neben den einfachen in Taffetbindung gewebten Stoffen waren in Aeg. broschierte Gewebe bekannt; auch nahtlose Kleider wurden durch sog. Schlauchweberei (s. d.) erzeugt. Für Leichentücher und andere Decken, Zeltbehänge u. s. w. stellte man Stoffe in Färberei, Malerei und Zeugdruck (s. diese Artikel im einzelnen) her, denen in manchen Fällen eine stuckähnliche Masse zu Grunde liegt (s. Abb. 14 u. 15). Wie weit man Teppiche des alten Aeg. denken kann, wird dadurch ungewiss, dass im Altertum darunter nicht ausschliesslich Fussbodenbeläge in unserem Sinne verstanden werden, sondern auch geflochtene, gemalte oder gestickte Decken für die Wände in Betracht kommen. An sonstigen altägyptischen Textilien müssen noch die Netzar beiten erwähnt werden, welche sich als oberster Belag der eingewickelten Mumien finden; die Verzierung derselben besteht innerhalb der Maschen aus farbigen Perlen.


Abb. 12 Aegyptischer Webstuhl nach einer Darstellung aus: Aug. Braulik, Altägyptische Gewebe, Stuttgart 1900. Original auf einem Wandgemälde in Beni-Hasan. Die mit a und b bezeichneten Stäbchen dienen zur Fachbildung.

Die Mustergebung der altägyptischen Behangstoffe haben wir uns im allgemeinen als eine geometrische vorzustellen, wie sie sich aus der Technik heraus entwickelt (s. Abb. 16); erst in späterer Zeit erscheinen mit der fortschreitenden Fertigkeit in Weberei, Wirkerei und Stickerei Ornamente, in welche Reminiszenzen der altägyptischen Formensprache hineinklingen, wie sie uns aus den Denkmälern der Architektur und Malerei bekannt sind (s. Abb. 17).
Wichtige Aufschlüsse geben uns hierfür die seit dem letzten Jahrzehnt in Oberägypten gemachten Gräberfunde (s. koptische Textilfunde). Die moderne Textilindustrie Aegyptens ist unbedeutend, jedoch im Aufschwung begriffen. Man fertigt in Kairo u. a. 0. grobe Baumwollenstoffe für die Soldaten, halbwollene, blau gefärbte Stoffe für die Fellahweiber; wollene Decken und grobe Tücher liefert das Fayum. Die ehemals so bedeutende Leinenfabrikation in Unter- und Oberägypten hat aufgehört, ebenso ist die Fabrik der roten Mützen zu Fuah im Verfall.
Abbildungen:

Abb. 12 Aegyptischer Webstuhl nach einer Darstellung aus: Aug. Braulik, Altägyptische Gewebe, Stuttgart 1900. Original auf einem Wandgemälde in Beni-Hasan. Die mit a und b bezeichneten Stäbchen dienen zur Fachbildung.

Abb. 13 Wandmalerei aus einem Grabe zu Beni-Hasan: Semitische Familie, in Aegypten Einlass begehrend (nach Lepsius), nach einer Darstellung aus Justi, Geschichte der orientalischen Völker im Altertum, Berlin 1884.

Abb. 14 Bemaltes Leinwandgewebe nach einer Darstellung aus: Braulik, Altägyptische Gewebe, Stuttgart 1900. Die Buchstaben a und b beziehen sich auf leichtere (a) und dunklere (b) Stellen der braungrauen Farbe.

Abb. 15 Bemaltes Leinwandgewebe wie Abbildung 14. Originale von 14 und 15 im k. k. Oesterreichischen Museum in Wien.

Abb. 16 Dekomponiertes ägyptisches Stoffmuster aus einer Wandmalerei nach einer Darstellung aus: Braulik, Altägyptische Gewebe, Stuttgart 1900. Die Dekomposition ist so dargestellt, dass die schwarzen vollen Quadrate für Schwarz, die Kreuze in denselben für Indischrot, die Punkte für Zinnobergrün und die Kreise darin für Chromgelb gelten sollen. Das Muster besteht nach Angabe von Braulik aus sechs verschiedenen Schussfäden, die sich in der Ordnung 1, 2, 3, 4, 5, 6, 5, 4, 3, 2; 1, 2, 3, 4, 5, 6, 5, 4, 3, 2 u.s.w. im Gewebe wiederholen. Original wie vorher.

Abb. 17 Altägyptisches Flächenmuster aus Lotos und Spiralen mit Handwerkszeichen in Feldern, nach einer Darstellung aus Friedrich Fischbach, Ursprung der Buchstaben Gutenbergs, Mainz 1900, Tafel V, Fig. 4.